Willkommen beim Literaturblog von Elisabeth Stuck

Hanna Johansen (1939-2023)



Die bekannte Schriftstellerin Hanna Johansen ist gestorben. Was hat hat sie uns hinterlassen? Sie war eine Meisterin des unvoreingenommen  Blicks - sowohl in der Literatur für Erwachsen als auch in ihren Geschichten und Gedichten für Kinder.  Wie erleben Tiere und Dinosaurier die Welt der Erwachsenen? Wie erlebt ein kleines  Kind - so  in der Erzählung für Erwachsene Die Analphabetin - die Bombenangriffe auf Bremen 1944? Johansen hat zeit ihres Lebens Neues ausprobiert. So erschienen im Herbst 2022 ihre persönlichen Geschichten zu Bildern. Doch in allen überraschenden neuen Texten war gleichzeitig  ihre ganz eigene literarische Stimme erkennbar. Last not least: Die Sicht von Frauen und Mädchen spielt in ihrem gesamten Werk eine zentrale Rolle.  



Mein Blogbeitrag würdigt Johansen Werk, mit dem ich mich seit langem intensiv beschäftige.

Der Himmel - wunderschön und plötzlich bedrohlich
 

Hanna Johansen hat als Kind die Bombenangriffe auf Bremen erlebt. Ein weiter norddeutscher Himmel kommt in ganz vielen Texten vor. Oft finden wir wunderschöne Himmelsbilder, die aber ganz plötzlich in eine bedrohliche Szenerie kippen. So schon in Johansens erstem Roman, einer surreal anmutenden Bahnreise und Zeitreise mit dem Titel Die stehende Uhr (1978):

Immer wieder blitzt es an diesem Himmel auf, an den verschiedensten Stellen, und das ist nicht die Sommerhitze allein. Es sieht aus, als  würden Stanniolstreifen abgeworfen, von unbekannten und auch für immer unerkennbaren Urhebern. 

Die stehende Uhr, S. 97

Etwas vom eindrücklichsten im Werk für Erwachsene ist für mich die Erzählung Die Analphabetin. Darin erlebt eine fünfjährige Ich-Erzählerin ihren Alltag in Bremen 1944. Sie beschreibt mit einem unvoreingenommenen Blick, was sie erlebt. Sie versteht meist nicht, was genau passiert, erlebt aber dieses Kippen des freundlichen Himmels ins Bedrohliche sehr intensiv. Freundliche Tierwolken mutieren bei Bombenangriffen in den Augen des Mädchens zu erschreckenden Monstern.

Das Mädchen fragt oft nach Wörtern und Ereignissen die es nicht versteht und erhält von den Erwachsenen ausweichende Antworten. 


Rechts oben in der aufgeschlagenen Zeitung sehe ich noch etwas, das neu ist, ein Feld mit einer Reihe von kleingedruckten Namen.
Sie schlägt die Zeitung zu.
Und sonst?
Du siehst es ja, sagt sie. Anstrengung aller Kräfte - Totaler Kriegseinsatz. Das sind die grossen Buchstaben. Bald werde ich sie alle kennen. 

Die Analphabetin, S. 97

Es ist keineswegs eine verharmlosende Darstellung des Kriegs, die Johansen mit dieser Erzählweise bewirkt. Im Gegenteil kommt die unsägliche Brutalität, mit der dieser Krieg das Leben durchdringt, durch diese Kinderperspektive umso krasser zum Ausdruck. Das Geschehen wird meist nicht erklärt und kommentiert, sondern sachlich präzise beschrieben. Eine ähnliche erzählerische Darstellung der Kriegszeit finden wir übrigens wenig später im Werk der ungarisch-schweizerischen Agota Kristóf, wo zwei Jungen in Le Grand cahier (1986) und den beiden Fortsetzungen emotionslos und lakonisch von der schreckliche Brutalität des Lebens zu Kriegszeiten erzählen. 

Johansens Kindheit hat in vielen Texten Spuren hinterlassen. Sehr viel davon lesen wir in Der Herbst, in dem ich Klavierspielen lernte. In diesem Alterswerk wird die Kindheit aus Sicht der erwachsenen Autorin erzählt und mit zusätzlichem Geschehen aus der Familiengeschichte ergänzt. So z.B. mit der Szene, als  sich ihre Eltern bei der Rückkehr des Vaters von der Front trennen. In diesem Spätwerk begegnet man  übrigens vielen Figuren und Situationen aus Johansens früheren Texten wieder. 

Diesen fremden Blick auf die Welt finden wir noch in weiteren Werken wie z.B. Zurück nach Oraibi, wo eine Jugendliche aus einer Hopi-Familie von ihrem Wechsel in ein christliches Internat sich sowohl in ihrer Herkunftskultur als auch in der weissen US-Kultur fremd fühlt. Sie bezeichnet sich denn auch einmal  als "Schmetterling, der zwischen zwei Blumen sitzt". Johansen hat während ihres USA-Aufenthalts umfangreiche Recherchen gemacht und u.a. eine Autobiographie einer Hopi benutzt. Heutzutage würde Johansens Text vermutlich von woker Seite scharf verurteilt.  Aber Johansen hat sich nicht ungehörig etwas angeeignet, sondern sie hat einen ganz eigenen literarischen Weg gefunden, um in Zurück nach Oraibi kulturelle Alterität sehr respektvoll und überzeugend literarisch zu gestalten. 

Humorvoll, schelmisch und ironisch

Im Roman Die Universalgeschichte der Monogamie (1997) schlägt Johansen einen ganz neuen Ton an: Humorvoll und witzig kommt diese Geschichte einer Doktorandin daher, die sich mit der Frage befasst: Gibt es die lebenslange Treue?  Es ist ein Schelmenroman, ganz in der Tradition eines Tristram Shandy, aber aus weiblicher Sicht. In einem Interview hatte mir Hanna Johansen denn auch gesagt:

Von Anfang an hatte ich gehofft, dass das Buch komisch wird und auch beim Schreiben Spass macht. Komik hat ja zu tun mit Erwartungen, die nicht oder nur teilweise oder auf unerwartete Weise erfüllt werden.

Hanna Johansen in:  Berner Zeitung (17.3.1997)

Die Doktorandin mag die hohe Erwartung an eine 'Universalgeschichte' der Monogamie nicht erfüllen, gibt ihre wissenschaftlichen Ambitionen auf und wird Schriftstellerin. Es kommen in der Handlung viele Seitensprünge vor sowie auch Seitensprünge und Umwege beim Schreiben. Zu diesen Umwegen gehören auch ornithologische Exkurse, die nicht nur mit Vögeln, sondern auch mit den Menschen zu tun haben. Johansen ist hier ein Buch gelungen, das auch beim Lesen Spass macht. 

Es gibt in Johansens früherem Werk Texte, die nicht so schelmisch mit Geschlechterrollen, Paarbeziehungen und Trennungen umgehen. Im Roman Trocadero etwa hat eine Frau den Auftrag, mit nur zwei Fischen eine grosse, selbstgefällige Herrengesellschaft zu verköstigen und durchsucht einen kafkaesken Palast. Im Erzählband Die Schöne am unteren Bildrand und Ein Mann vor der Tür erzählen Frauen lakonisch von Paarbeziehungen. Auch der Frau, die sich nach einer Ehekrise entscheidet, sich von ihrem Mann und ihren Töchtern zu trennen und ihr zwanzigjähriges Leben als "Haustier zu beenden", ist nicht primär zum Scherzen zumute (Die Kurnovelle 1994, S. 145). 


Die Kinderbücher

Johansen hat Kinderbücher und Gedichte für Kinder geschrieben, die ihresgleichen suchen.  Der unvoreingenommene Blick kommt hier ebenfalls vor: Etwa wenn der der Kater in Felis, Felis oder der Dinosaurier in Dinosaurier gibt es nicht die Menschen und die heutige Welt kommentieren. Doch der unvoreingenommene  Blick in den Kinderbüchern hat nie mit der Erinnerung an den Krieg zu tun, sondern er hat etwas Schelmisches und Witziges. Die Tiere halten nämlich oft den Lesenden bzw. Zuhörenden den Spiegel vor. So ist z.B. Dinosaurier gibt es nicht eine phantastische Ostergeschichte mit einer für klein und gross vergnüglichen philosophischen Komponente. Wie da ausgestorbene Lebewesen an Ostern zu neuem Leben auferstehen, dürfte auch theologisch interessierte Vorlesende zum Lachen bringen. 

Johansens Tiergeschichten für Kinder sind eine ganz besondere Mischung aus Phantasie und Wirklichkeit. Meist hat sich Johansen in der Verhaltensforschung kundig gemacht und dieser Wissensstand  fliesst dann in eine überzeugende Geschichte ein. So ist in Die Geschichte von der kleinen Gans, die nicht schnell genug war Konrad Lorenz' bekannte Verhaltensforschung zu Gänsen verarbeitet. Gleichzeitig ist dieses Kinderbuch wie eine Fabel gehalten: Es kommen sprechende Tiere vor, die indes niemandem eine moralisierende Lehre erteilen, sondern die für Kinder etwas sehr Ermutigendes enthalten. Denn nur dank der Langsamkeit der kleinen Gans wurden nämlich die anderen Gänse vor den Jägern gerettet. Oder das Buch Bruder Bär, Schwester Bär, das turbulent erzählt von den Rangeleien zwischen Geschwistern und von einer alleinerziehenden Mutter- Phänomene, die wir  nicht nur aus der Verhaltensforschung von Bären kennen. Es geht auch um Familienkonstellationen,  die nicht nur Hanna Muschg, sondern vielen Frauen vertraut waren/sind. 


 Offen für Neues

Im Alterswerk verändern sich Johansens Texte nochmals. Die Autorin erzählt direkter, realistischer und expliziter autobiographisch grundiert. Neben den ebenfalls vorkommenden Kindheitserinnerungen wird nun Johansens Interesse an der Gegenwart einer alternden Frau erkennbar. Selten habe ich so berührende Zeilen über das Altern gelesen wie im Roman Der Herbst, in dem ich Klavier spielen lernte.  Neuanfänge sind hier auch in fortgeschrittenem Alter möglich, zuweilen stockender und begrenzter. Und wie immer bei Johansen: Sie erzählt lakonisch, nie lamentierend - kein Wort zu viel, aber auch keins zu wenig. 



Eine unverwechselbare literarische Stimme ist verstummt. Ein den Menschen zugewandter Mensch ist nicht mehr unter uns.

Aus den Beiträgen an der Trauerfeier, die letzte Woche in der reformierten Kirche Kilchberg (ZH) stattfand, ging hervor, dass Hanna Muschg ihre Offenheit für Neues bis ans Lebensende bewahren durfte. Eine Offenheit auch dem eigenen Sterben gegenüber.


R.I.P. Hanna Johansen

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Freitag, 19. April 2024